Nehmen wir mal an, dass in den zwei bis drei Jahrhunderten, in denen die Absinth-Wirkung bei Frauen beobachtet wurde, auch Getränke mit einem höheren Thujon-Gehalt als 35 mg/l existierten und Personen diesen Absinth mit stärkster Wirkung tranken.
Zusätzlich gehen wir davon aus, dass Personen vor zwei Jahrhunderten mehrere Liter Absinth pro Woche zu sich nahmen, sodass sie trotz des geringen Thujon-Gehalts pro Liter eine wirksame Dosis an Thujon zu sich nahmen.
Unter diesen beiden Annahmen lohnt es sich immerhin, sich mit der potenziell psychotropen Wirkung des Thujons als mögliche Erklärung der Absinth-Wirkung bei Frauen zu befassen. Spektrum.de bezeichnet Thujon im Lexikon der Neurowissenschaft als Ursache für die durch Absinth verursachten Vergiftungserscheinungen, die unter dem Überbegriff „Absinthismus“ zusammengefasst werden. Im Lexikoneintrag von Spektrum.de über Absinthismus lesen sich dessen Konsequenzen wie folgt:
- Erhöhung des Wohlbefindens
- Optische und akustische Halluzinationen
- Tiefe Depressionen
- Epilepsie-ähnliche Krämpfe
- Schwere Stoffwechselstörungen
- Schädigung der Leber
Es ist sogar von einem völligen körperlichen und geistigen Verfall die Rede. Doch Moment: Reden wir hier wirklich noch von einer Absinth-Wirkung bei Frauen oder von einem anderen Krankheitsbild?
Was bei den Symptomen des Absinthismus auffällt, ist, dass diese den Nebenwirkungen eines übermäßigen und häufigen Alkoholkonsums ähneln oder sogar mit denen identisch sind. So sieht es auch der Großteil der Wissenschaftler heutzutage, der dem Absinth seine psychoaktive Wirkung abspricht. Sie vermuten, dass der schon immer sehr hoch konzentrierte Alkohol den Absinth so wirkungsvoll gemacht habe. Somit ist der Absinthismus womöglich nichts anderes als ein Alkoholismus gewesen, den die damalige Gesellschaft nicht als solchen erkannte. Aber was bedeutet das für die Absinth-Wirkung bei Frauen?
Letzten Endes mag Thujon ein psychotroper/psychoaktiver Wirkstoff sein, doch es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es jemals das Thujon gewesen sei, das eine besondere Absinth-Wirkung bei Frauen oder allgemein beim Menschen zur Folge gehabt hätte. Stattdessen kommt ein berechtigter Verdacht auf, dem wir auf der Suche nach der tatsächlichen Absinth-Wirkung nachgehen möchten: Verfielen die Personen vor 200 bis 300 Jahren möglicherweise einem hemmungslosen Alkoholrausch und war eventuell der hohe Alkoholgehalt des Absinths für dessen starke Wirkung verantwortlich?